Seit 2013 arbeitet
der Künstler Ali Anvari mit handgeknüpften Orient-teppichen. Sie sind das von ihm bevorzugte Trägermedium seiner zumeist abstrakten Malerei, die sich als gegenwartsbezogene Schicht über die
traditionellen, altüberlieferten Muster der Teppiche legt, sie aufnimmt, farbig umgestaltend interpretiert und auf diese Weise einen bedeutenden Bestandteil der kulturellen Herkunft Ali Anvaris
mit
seinem heutigen Leben in Westeuropa verknüpft. In der künstlerischen Arbeit mit den Teppichen vollzieht sich somit die kulturelle Identität des Künstlers, der dem Orient und Okzident
gleichermaßen angehört.
In der Regel handelt
es sich bei den verwendeten Teppichen um Stücke, die in den Sperrmüll entsorgt wurden. Durch ihre einzigartige Zweitverwertung durch den Künstler beginnt ein neues Leben
der einzelnen Exemplare, erfolgt eine Auf- und Neuwertung des ehedem Verworfenen.
Mit seiner Installation der fliegenden Teppiche betritt Ali Anvari einen neuen Weg im Umgang mit seinem grundlegenden Werkstoff. Die sieben aufeinander folgenden, auf Gerüste zunehmend in die
Höhe montierten Teppiche zitieren das allgemein bekannte Märchenmotiv. Sie zeigen die Teppiche in aufsteigender Folge von der noch bodennahen Startphase bis zum endgültigen Höhenflug.
Der dargestellte Flug steht sowohl für den Werdegang der verwendeten Teppiche, die durch ihre künstlerische Bearbeitung vom Sperrmüllobjekt zu einem Kunstwerk aufsteigen, als auch für das Leben
Ali Anvaris, der seinen künstlerischen Werdegang und Aufstieg großenteils der Arbeit mit den Teppichen verdankt.
Zudem versteht sich die Installation als Kritik an der Mentalität unserer Wegwerfgesellschaft, denn nahezu alle vom Künstler verwendeten Teppiche wurden von ihren ursprünglichen Besitzern in
intaktem Zustand entsorgt, lange bevor sie infolge auftretender, irreparabler Schäden nicht mehr zu verwenden gewesen wären.
Indem er sie hier zum Fliegen bringt, erweist der Künstler den Teppichen jene Referenz, die ihnen als hochkulturelles Produkt einer langen und Jahrhunderte alten Kunsthandwerkertradition zusteht
und erhebt sie zugleich in den Rang eines autonomen Kunstwerks, das über diese Tradition hinaus geht und sie mit unserer Moderne harmonisch verbindet.
Bernd Janßen-Thul, August 2021